Policy Brief: Die EU: Weniger Bürokratiemonster, mehr Effizienzmaschine
Von: young european swiss | yes
2. Juni 2025
Wenn es um die Europäische Union geht, fällt früher oder später garantiert das Schlagwort „Bürokratiemonster“. Kaum ein EU-Thema kommt ohne Klagen über angeblich ausufernde Regulierung und Verwaltung aus. So hält sich etwa das Gerücht, „80 Prozent der Gesetze“ würden in Brüssel gemacht – nationale Parlamente seien nur noch Abnick-Institutionen. Die EU-Verwaltung selbst gilt EU-Skeptikern als aufgeblähter Apparat mit Heerscharen an Beamtinnen und Beamten, der Unmengen an Steuergeld verschlingt. Oft bemüht werden Beispiele wie kuriose Verordnungen (Stichwort „Gurkenkrümmungsverordnung“) oder detailversessene Richtlinien, welche Unternehmen mit Formularen überhäufen. Doch stimmen diese Vorwürfe? Ein Blick auf einige Zahlen und Fakten relativiert vieles.
EU-Verwaltung: Personalstärke im Vergleich
Zunächst zur Grösse des EU-Beamtenapparats. Die gesamte Europäische Union beschäftigt mit all ihren Institutionen und Agenturen rund 60’000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – für einen Staatenverbund mit über 450 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner in 27 Mitgliedsländern. Diese Zahl umfasst die Beamtinnen und Beamten sowie die übrigen Bediensteten in der EU-Kommission, im EU-Parlament, im Ministerrat und den weiteren EU-Organen. Zum Vergleich: Allein das französische Finanzministerium beschäftigt etwa 140’000 Personen, also über doppelt so viele wie der gesamte EU-Dienst. Auch grosse deutsche Kommunen haben beträchtliche Verwaltungsapparate: Die Stadt Berlin etwa hat aktuell knapp 134’000 Beschäftigte im Landesdienst, die Stadt München über 43’000 – im Vergleich zu den 60’000 der EU.1, 2
Schaut man auf die einzelnen EU-Institutionen, zeigt sich ebenfalls ein überschaubares Bild. Die EU-Kommission in Brüssel – oft im Fokus der „Bürokratiemonster“-Kritik – beschäftigte im Jahr 2020 etwas über 32.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; der Ministerrat ein Generalsekretariat mit etwa 3.000 Beschäftigten. Das Europäische Parlament mit seinen Fraktionen kommt auf rund 8.000 Angestellte. Diese Grössenordnungen relativieren die Vorstellung einer unkontrolliert wuchernden Eurokratie.3, 4, 5
Parlamentsabgeordnete und Bürgervertretung
Auch bei den gewählten Vertreterinnen und Vertretern ist die EU-Struktur eher schlank bemessen. Das Europäische Parlament zählt seit der Europawahl 2024 720 Abgeordnete, während der Deutsche Bundestag gegenwärtig 630 Abgeordnete umfasst. Dabei vertreten die 720 Europaabgeordneten die Interessen von rund 450 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürgern, also mehr als das Fünffache der deutschen Bevölkerungszahl (Deutschland: ca. 84,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zum Jahresende 2023). Hier zeigt sich: Die europäische Ebene arbeitet mit vergleichsweise wenigen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, die sehr viele Menschen repräsentieren, während nationale Parlamente – wie der Bundestag – deutlich grösser sind, gemessen an der eigenen Bevölkerungszahl.6, 7, 8
Kosten der Verwaltung
Entgegen dem Bild vom milliardenteuren „Brüsseler Wasserkopf“ gibt die EU nur einen kleinen Teil ihres Budgets für Verwaltung aus. Konkret fliessen etwa 6.78 % des EU-Haushalts in Personal-, Verwaltungs- und Gebäudekosten. Zum Vergleich: Im Land Berlin machte der Personalausgabenanteil am Haushalt 2020 rund 32.5 % aus – fast ein Drittel. Der überwiegende Teil des EU-Budgets (rund 93%) kommt hingegen direkt den Mitgliedstaaten und Bürgerinnen und Bürgern zugute, etwa in Form von Fördermitteln, Agrarzahlungen, Forschungsprogrammen und Regionalfonds. Mit anderen Worten: Von jedem EU-Beitrags-Euro werden nur ein paar Cent für die Brüsseler Verwaltung aufgewendet. Auch pro Kopf relativiert sich die Belastung: Die Verwaltung der EU kostet jede Europäerin bzw. jeden Europäer im Schnitt nur wenige Dutzend Euro im Jahr, deutlich weniger als die nationalen Verwaltungen. Überbordende Bürokratieausgaben sehen anders aus.9, 10, 11
Sprachenvielfalt als Verwaltungsfaktor
Ein oft übersehener Aspekt der EU-Verwaltung ist die notwendige Sprachenvielfalt. In der Union mit 27 Ländern gibt es derzeit 24 Amtssprachen – von Deutsch und Französisch über Polnisch bis Maltesisch und Irisch. Alle wichtigen Dokumente, Rechtsakte und Mitteilungen der EU müssen in alle Amtssprachen übersetzt werden, damit sie in jedem Mitgliedstaat verbindlich und zugänglich sind. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein grösserer Übersetzungs- und Dolmetschaufwand, der aber demokratisch gewollt ist , damit alle EU-Bürgerinnen und Bürger die Gesetze in der eigenen Sprache lesen können. Die EU verfügt dafür über den grössten Übersetzungsdienst der Welt. Rund 1% des EU-Verwaltungsbudgets entfallen auf Übersetzungs- und Dolmetschleistungen – Kosten, die bei 24 Sprachen und hunderten Millionen Seiten an Text pro Jahr verständlich werden. Diese Sprachenvielfalt ist Teil der Bürokratie, aber auch Ausdruck der kulturellen Identität Europas.12
Zentralisierung vs. nationale Bürokratie
Oft wird über Brüsseler Vorschriften geschimpft, doch man vergisst, dass einheitliche EU-Regeln nationalen Bürokratien auch Arbeit abnehmen. Wenn etwa eine EU-Verordnung gilt, braucht nicht jeder Staat eigene Gesetze dazu zu erlassen – das spart 27-fache Gesetzgebungsverfahren. Ein aktuelles Beispiel liefert der Brexit: Durch den Austritt Grossbritanniens aus der EU müssen britische Behörden nun all die Aufgaben selbst erledigen, die zuvor in EU-Zuständigkeit lagen. Dazu zählten u.a. Zollkontrollen, Produktzulassungen, Agrarzertifizierungen und vieles mehr. Schätzungen zufolge werden im Vereinigten Königreich infolge des Brexit bis zu 50’000 zusätzliche Zollbeamte benötigt, um den Warenverkehr zu kontrollieren. Auf dem Höhepunkt der Austrittsverhandlungen waren über 30’000 britische Verwaltungsbeamte mit Brexit-Fragen befasst – fast ebenso viele, wie die EU-Kommission an Personal hat. Dieses unerwartete Wachstum der britischen Bürokratie zeigt ironisch, dass manche „Brüsseler“ Aufgaben eben doch erledigt werden müssen – entfällt die gemeinsame EU-Lösung, entsteht der Aufwand dann eben dezentral in jedem Land.13, 14
Fazit
Das oft bemühte Bild vom EU-„Bürokratiemonster“ hält einem Faktencheck nicht stand. Weder ist der Personalapparat der EU überdimensioniert (im Gegenteil, er ist gemessen an Bevölkerung und Aufgaben eher klein), noch verschlingt die EU-Verwaltung unangemessen viele Mittel (nur ca. 6% des Budgets). Auch die Gesetzgebungswut wird überschätzt – viele Regeln, die auf EU-Ebene erlassen werden, vereinheitlichen lediglich bereits bestehende nationale Vorschriften und ersparen 27 Einzelbürokratien viel Aufwand. Natürlich bleibt Bürokratie auch in Europa ein legitimes Thema: Gewiss gibt es überkomplizierte Verfahren und Reformbedarf bei einigen Abläufen. Die EU-Kommission selbst bemüht sich mit Programmen wie „Better Regulation“ um Abbau unnötiger Bürokratie. Doch insgesamt sorgt die EU in vielen Bereichen eher für Vereinfachung und Koordination, als dass sie sinnlos Bürokratie aufbläht. Das Schlagwort vom „Bürokratiemonster“ führt daher in die Irre. Es lohnt sich, bei Kritik an Brüssel genauer hinzusehen – meist sind die Zahlen weit unspektakulärer, als populäre Mythen behaupten. Die europäische Verwaltung mag komplex sein, aber ein Monster ist sie nicht – eher ein notwendiges Netz, das 27 Länder verbindet und in Summe sogar effizienter sein kann, als wenn jeder Staat allein vor sich hin wurstelt.
Referenzen
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Lilyanova, V. (2020, February). Financing the EU’s administration: Heading 7 of the 2021-2027 MFF (EPRS_BRI(2020)646133_EN, S. 8). European Parliamentary Research Service. https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2020/646133/EPRS_BRI(2020)646133_EN.pdf
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