Policy Brief: Droht der Schweiz ein Demokratieverlust bei einer Annäherung an die Europäische Union? Ein Faktencheck

Von: young european swiss | yes

2. Juni 2025


Die Schweiz ist international für ihre ausgeprägte direkte Demokratie bekannt, die es ihren Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, aktiv am politischen Leben teilzunehmen und regelmässig über wichtige Entscheidungen abzustimmen. Wenn es darum geht, über eine intensivere Zusammenarbeit mit der Europäischen Union zu diskutieren, sei es durch die Bilateralen III oder gar eine zukünftige Mitgliedschaft, äussern viele Schweizerinnen und Schweizer die Sorge, dass dadurch die nationale Souveränität und die direkten demokratischen Rechte der Schweiz gefährdet werden. Doch wie berechtigt ist diese Sorge? Und woher stammen diese Befürchtungen eines potenziellen Demokratieverlusts bei einer Annäherung der Schweiz an die EU?


Ursprünge der Bedenken

Zum einen basieren die Bedenken auf dem Missverständnis, dass die Schweiz im Falle engerer Abkommen mit der EU die EU-Rechtsakte automatisch übernehmen müsste, ohne dass das Schweizer Volk über die einzelnen Gesetze abstimmen könnte. Zudem wird befürchtet, dass zentrale politische Entscheidungen zunehmend auf EU-Ebene getroffen würden, womit nationale Referenden an Bedeutung verlieren würden. Die Sorge, dass Beschlüsse von supranationalen Institutionen, wie beispielsweise dem Europäischen Gerichtshof, Schweizer Gesetze und Praktiken überstimmen könnten, ist ein weiterer Grund für die Skepsis einiger Bürgerinnen und Bürger. Zusammengefasst beruhen die Bedenken auf den folgenden drei Annahmen: automatische Rechtsübernahme, Einschränkung von Volksabstimmungen und Einfluss supranationaler Institutionen. Diese Vorstellungen sind weit verbreitet – doch sie halten einem genaueren Blick nicht stand.

Dynamisch statt diktatorisch: Die Schweiz entscheidet mit

Ein gern diskutiertes Thema ist das der automatischen EU-Rechtsübernahme und deren Bedeutung für die Souveränität der Schweiz – insbesondere im Kontext der Bilateralen III. Tatsächlich ist es aber so, dass die befürchtete Übernahme von EU-Recht einerseits nicht „automatisch”, sondern dynamisch erfolgt und andererseits nur gewisse Abkommen betrifft.1, 2

So wird die Schweiz über jede einzelne Übernahme selbstständig entscheiden, ob und wie sie diese umsetzen wird und wird dafür jeweils zwei Jahre Zeit erhalten. Falls ein Gesetzesreferendum zustande kommen würde, würde die Umsetzungszeit der dynamischen Rechtsübernahme um ein Jahr verlängert werden. Das Initiativ- und Referendumsrecht werden also weiterhin bestehen bleiben. Zusätzlich wird die Schweiz – wie jetzt bereits die EU-Mitgliedstaaten – in der für sie relevanten Entwicklung des EU-Rechts miteinbezogen, wo sie unter anderem ihre Anliegen mit den europäischen Entscheidungsträgern teilen und sich aktiv an der Ausarbeitung beteiligen kann.

Sollte die Schweiz künftig eine Übernahme ablehnen, wird die EU nach Absprache mit der Schweiz verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen ergreifen können. Im Vergleich zur heutigen Rechtsunsicherheit stellt dies eine erhebliche Verbesserung dar, da die EU zuvor einseitige Massnahmen beschliessen konnte, gegen die sich die Schweiz nicht wehren konnte.

Zudem betrifft die dynamische Rechtsübernahme insgesamt nur sechs3 von über 140 bilateralen Abkommen, wobei die Schweiz hier zahlreiche Ausnahmen aushandeln konnte, wie beispielsweise beim Landverkehr oder beim Lohnschutz. Die dynamische Rechtsübernahme ist ausserdem kein unbekannter Mechanismus in der Schweiz – im Luftverkehrsabkommen (Bilaterale I) und im Schengen/Dublin-Abkommen (Bilaterale II) ist sie bereits verankert und hat seit deren Inkrafttreten im Jahr 2002 beziehungsweise im Jahr 2008 zu keinen demokratischen Einbussen geführt. So konnte die Schweizer Bevölkerung im Mai 2019 im Rahmen eines Referendums über die Revision des Waffenrechts abstimmen.

Fremde Richter? Ein Mythos wird entkräftet

Bedenken, dass Schweizer Gesetze und Praktiken von externen europäischen Instanzen überstimmt werden könnten, sind in der aktuellen Debatte rund um die angeblich „fremden Richter” in aller Munde. In den bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU sind allerdings keine fremden Richter vorgesehen – weder heute noch künftig.4, 5

Rechtsstreitigkeiten innerhalb der Schweiz werden durch Schweizer Gerichte behandelt, solche in einem EU-Mitgliedstaat durch nationale Gerichte oder gegebenenfalls durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Kommt es jedoch zu Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung eines Abkommens, wie beispielsweise bei der Personenfreizügigkeit oder im Landverkehr, kommt ein paritätisches Schiedsgericht zum Einsatz. Dieses besteht aus Vertretungen beider Seiten sowie einem unabhängigen Präsidium und entscheidet, welches Recht anwendbar ist: Schweizer Recht, EU-Binnenmarktrecht oder spezifisch vereinbartes Vertragsrecht. Bei übernommenem EU-Recht, z.B. technischen Normen, legt allein der EuGH aus, was dieses Recht bedeutet – Sonderregeln wie etwa flankierende Massnahmen bleiben jedoch davon unberührt.

Der neue Streitschlichtungsmechanismus im Rahmen der Bilateralen III stärkt die Position der Schweiz: Er erlaubt es ihr, sich rechtlich gegen EU-Rechtsakte zu wehren – was heute nicht möglich ist. Stellt das Schiedsgericht eine Vertragsverletzung fest, dürfen Ausgleichsmassnahmen nur verhältnismässig sein und müssen sich auf das betroffene Abkommen oder ein anderes Binnenmarktabkommen beschränken. Damit wird eine pauschale Suspendierung ganzer Abkommen durch die heutige gültige Guillotine-Klausel praktisch ausgeschlossen. Zudem entscheidet das Schiedsgericht eigenständig über die Verhältnismässigkeit solcher Massnahmen. Solche paritätischen Schiedsverfahren sind völkerrechtlich üblich – die Schweiz setzt sie in vielen anderen internationalen Abkommen bereits erfolgreich ein.

Fazit

Die oft geäusserten Sorgen über einen Demokratieverlust im Zuge einer engeren Anbindung der Schweiz an die EU beruhen vielfach auf Missverständnissen oder unvollständigen Informationen. Weder würde das Schweizer Volk seine demokratischen Mitbestimmungsrechte verlieren, noch würde fremdes Recht automatisch und unkontrolliert übernommen. Die dynamische Rechtsübernahme sieht weiterhin demokratische Verfahren wie das Referendum vor und betrifft nur eine begrenzte Anzahl an Abkommen. Auch die Angst vor „fremden Richtern” ist unbegründet: Stattdessen wird bei Streitfällen ein paritätisches Schiedsgericht eingesetzt, das völkerrechtlich erprobt und für beide Seiten fair ausgestaltet ist. Insgesamt zeigt sich, dass eine vertiefte Zusammenarbeit mit der EU mit dem Erhalt demokratischer Rechte und der Schweizer Souveränität vereinbart wird und gleichzeitig mehr Rechtssicherheit und Mitsprache bietet als dies heute der Fall ist.

Referenzen

  1. «Faktencheck Bilaterale III», Economiesuisse, zuletzt besucht am 13.04.2025, https://www.economiesuisse.ch/de/artikel/faktencheck-bilaterale-iii

  2. «Warum wir die Bilateralen III brauchen: Gastkommentar von Bundesrat Beat Jans, 23. Juli 2024: Neue Zürcher Zeitung», SEM: Staatssekretariat für Migration, zuletzt besucht am 13.04.2025, https://www.sem.admin.ch/ejpd/de/home/aktuell/interviews/2024/2024-07-23.html

  3. Bezieht sich auf die vier bestehenden Binnenmarktabkommen über die Personenfreizügigkeit, den Luft- und Landverkehr und die technischen Handelshemmnisse sowie die beiden neuen Binnenmarktabkommen über die Lebensmittelsicherheit und Strom

  4. «Paket Bilaterale III – Was ist drin und wie ist der Inhalt zu bewerten?», Economiesuisse, zuletzt besucht am 13.04.2025, https://www.economiesuisse.ch/de/dossier-politik/paket-bilaterale-iii-was-ist-drin-und-wie-ist-der-inhalt-zu-bewerten-0

  5. «Bilaterale III – Fokus: Dynamische Rechtsübernahme», Zürcher Handelskammer, zuletzt besucht am 13.04.2025, https://www.zhk.ch/de/wirtschaft-und-politik/aussenwirtschaft-und-handel/bilaterale-iii-fokus-dynamische-rechtsuebernahme.html

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