Überlegungen zum Jahrestag des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine
Heute jährt sich zum ersten Mal der traurige Tag des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine. Unser ehemaliges Vorstandsmitglied Guillaume Kayser hat sich hierzu einige Gedanken gemacht.
Imperialismus und mangelnde Attraktivität Russlands
Was sind die fundamentalen Gründe, wieso dieser Krieg ausgebrochen ist?
Wer sich in der Geopolitik auskennt, weiss um Thukydides’ Fluch, wonach die Ursache vieler Kriege im Aufstieg einer neuen Macht liegt, die das von der Hegemonialmacht dominierte Status Quo in Frage stellt. Diesen Fluch mag man als Grund für die gegenwärtigen wachsenden Spannungen zwischen den USA und China sehen, aber er erklärt nicht wieso Russland den Krieg mit der Ukraine gesucht hat. Ein Krieg, notabene, der schon 2014 mit der illegalen Annexion der Krim und der Besetzung eines Teils des Donbass begann und den Putin vor einem Jahr unilateral massiv eskalierte.
Nein, die tieferen Gründe für diesen Krieg liegen in der mangelnden Attraktivität des russischen «Modells»: Autoritarismus, Kleptokratie, Inhaftierung von Journalisten, Oppositionellen und einfachen Bürgern, unfreie Wahlen, Apathie der Wirtschaft, die vor allem auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen wie Gas und Öl basiert, Indoktrination und Militarisierung der Jugend in den Schulen. Diese Tendenzen durchziehen die russische Gesellschaft seit Jahren, und leider gab und gibt es in Russland keine Anzeichen einer baldigen Wende. Wen wundert es da, dass die grosse Mehrheit der Ukrainer, trotz ihrer kulturellen Nähe zu den Russen (Orthodoxie, kyrillische Schrift), wie viele ihrer ehemaligen Leidensgenossen aus der Sowjetzeit den Weg in den freien und wirtschaftsstarken Westen (NATO und EU) einschlagen wollten? Hätten wir uns an ihrer Stelle als souveränes Volk anders entschieden?
Da kommt nun der zweite Faktor ins Spiel: das imperialistische Selbstverständnis Putins und weiter Teile des russischen Volkes, welche nicht akzeptieren können oder wollen, dass die Ukraine (sowie andere Staaten aus der früheren Sowjetsphäre) sich als unabhängiger und souveräner Staat frei entscheiden darf, mit wem sie handelt oder sich verbündet. Aus Putins Reden und Taten ergibt sich ein kohärentes Bild: für den Kremlherrscher muss die Ukraine weiterhin unter russischem Einfluss bleiben, koste es, was es wolle! Statt aber sein Land zu reformieren und attraktiver zu machen, hat Putin sich für das Gegenteil entschieden: er schickte Panzerkolonnen und Luftlandetruppennach Kyiv, um die Ukraine im Handstreich zu nehmen und das Land politisch zu enthaupten.
Uns erinnert es an die Worte Prinzessin Leias aus Star Wars:
«The more you tighten your grip, […] the more star systems will slip through your fingers.».
Die letzten Sympathien, die es in der Ukraine noch für die Russen gab, sind mit dem ersten Kanonenschuss im Morgengrauen des 24. Februars 2022 verflogen. Und spätestens nach dem Aufdecken des Massakers von Butscha wurden sie definitiv zu Grabe getragen.
Der lange Schatten der Geschichte
Die Geschichte wiederholt sich zwar selten genau gleich, und doch birgt sie Lektionen für jeden, der sich mit ihr auseinandersetzt. Und Russland argumentiert angeblich historisch, also möchten wir hier auch ein paar Überlegungen teilen.
Wenn der Chefredaktor der NZZ am 24. Februar 2023 in einem Leitartikel schreibt, Russland hätte zum ersten Mal in seiner Geschichte einen anderen Staat angegriffen, dann muss man sich die Frage stellen, wie seriös unsere Presse die Geschichtsbücher gelesen hat: wo bleiben die vielen Kriege des zaristischen Russlands gegen Polen, Schweden und die Osmanen? Wo der Winterkrieg, den die Sowjetunion 1939 gegen Finnland startete oder der Feldzug gegen Polen, das Stalin sich mit Hitler teilen wollte, was ja bekanntlich den 2. Weltkrieg ausgelöst hat? Dass kremltreue Panzer 1956 in Budapest, 1968 in Prag und 2008 nach Georgien rollten, wird ebenso pompös ignoriert.
Zur Geschichte, wie sie aus dem Kreml propagiert wird, möchten wir nur Folgendes sagen: im Memorandum von Budapest engagierte sich Russland 1994 in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag dazu, die territoriale Integrität und die Souveränität der Ukraine zu respektieren. Es sei hier auch noch einmal gesagt, dass es kein Abkommen zwischen dem Westen und der Sowjetunion oder Russland gibt, das eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine untersagen würde, und dass Diskussionen, wie sie informell zwischen obskuren Unterstaatssekretären geführt werden, erst dann zu «Versprechen» werden, wenn sie in einem Abkommen stehen das der Öffentlichkeit vorliegt, und anschliessend von einer Regierungsspitze unterschrieben und von einem Parlament ratifiziert wurden.
Zum Glück haben manche Regierenden die Lektionen aus den Konflikten des letzten Jahrhunderts gezogen.
Der Widerstandsgeist einer Nation
Eine erste Lektion wäre: «Keine Kapitulation gegenüber einem Unrechtsstaat»: Die Ukrainer selbst haben den Weg des bewaffneten Widerstands gegen den Angreifer gewählt, um dem Schicksal Frankreichs zu entgehen, dessen Eliten am Anfang des 2. Weltkrieg den Kampf aufgaben, in der naiven Hoffnung, die Besatzer würden sich schon gutmütig erweisen. Zum Glück gab es de Gaulle, doch wie anders wäre alles gewesen, wenn die Franzosen einen Churchill oder eben einen Selenski an ihrer Spitze gehabt hätten?
Die Worte Selenskis am Anfang des Krieges «Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit!» oder der Verteidiger der Schlangeninsel «Russisches Kriegsschiff, f*** dich!» stehen stellvertretend für den Widerstandsgeist einer Nation und die vielen grossen und kleinen Opfer, die die Ukrainer auf sich nehmen, um ihren Staat und ihre Freiheit zu retten.
Liegt denn nicht hier der endgültige Beweis, wenn er denn noch nötig gewesen wäre, dass die Ukraine eine wahre Nation ist, die ihren Platz in der Weltgemeinschaft verdient hat? Denn man kann kein Land gegen den Willen seiner Einwohner verteidigen, insbesondere dann nicht, wenn die Eliten versagen. Die Ukrainer haben in den letzten Jahren eine starke Zivilgesellschaft aufgebaut und eine Demokratie, die zwar nicht perfekt ist, aber die sich stetig verbessern will. Und sie hat uns gezeigt, wie man sich gegen die Autokraten der Welt zur Wehr setzt!
Was der Westen tun muss
«Kein «Appeasement» und keine Entscheidungen über den Köpfen der Betroffenen hinweg»
Eine andere Lektion lautet: «Kein «Appeasement» und keine Entscheidungen über den Köpfen der Betroffenen hinweg». Die übrigen Länder Europas, die EU und die USA haben die Ukrainer nicht auf dem Altar des Friedens geopfert, wie seinerzeit Chamberlain und Daladier in München, als sie die Tschechoslowaken verrieten. Der Westenunterstützt die Ukraine mit der Aufnahme von Geflüchteten, mit einer bedeutenden finanziellen und humanitären Hilfe, sowie mit Waffenlieferungen und mit Sanktionen gegenüber Russland.
In einem Punkt hat Chefredaktor Eric Gujer Recht: Europa muss wieder mehr in seine Sicherheit investieren und kann nicht weiter militärisch und rüstungstechnisch so abhängig von den USA sein. Schade, dass er sein Argument zur EU mit dem Ausdruck «Amerikas Kolonie» beginnt, den man eher in einem Briefing aus dem Kreml erwartet hätte! Dieser Ausdruck verweigert zum einen die Handlungsfähigkeit, die die EU-Staaten schon immer hatten und haben, den anstrengenden Weg der strategischen Autonomie zu wählen. Zum anderen suggeriert dieser Begriff, dass die Ukraine nur die Wahl habe, eine Kolonie Russlands oder der USA zu sein, und setzt damit die Positionen beider Lager auf die gleiche Stufe! Alle NATO-Mitgliedsstaaten haben sich selber demokratisch und souverän zum Beitritt entschieden. Kolonialismus sieht da schon anders aus.
Die Länder Europas müssen sich für eine Friedensordnung auf unserem Kontinent einsetzen, die wir gegebenenfalls selber verteidigen können. Dazu braucht es Zusammenarbeit auf europäischer Ebene, und das ein oder andere Land wird da auch Zugeständnisse machen müssen. Wie Timothy Snyder es schön gesagt hat, es ist der Kampf zwischen zwei diametral entgegengesetzten Arten, die Macht zu organisieren: in einem föderalen Modell wie die EU oder in einem imperialistischen Grossreich, wie es Moskau beabsichtigt.
Langfristig besteht unsere beste Verteidigung, im Westen wie in der Ukraine, darin, die Zivilgesellschaft zu stärken und gegen Desinformation vorzugehen.
Das Ende der Schweizer Neutralität wie wir sie kannten
Welche Zugeständnisse und Änderungen kommen denn auf die Schweiz zu? Wie wir bereits in einem yes-Edito im Januar geschrieben haben, denken wir, dass die Schweiz längerfristig ihre Neutralität fundamental überdenken muss!
Die Hauptkunden unserer Rüstungsindustrie sind NATO-Staaten. Wenn diese Länder ihre Waffen made in Switzerland nicht weitergeben dürfen, um ein demokratisches Land zu schützen, das sich selber verteidigt, dann stellt sich die Frage ob sie mittel- bis langfristig noch Waffen in der Schweiz einkaufen wollen. Geschweige denn, was passieren würde, wenn ein NATO-Staat angegriffen würde und der Waffenzulieferer Schweiz gerade dann nicht mehr liefert, da man ja nicht in Kriegsgebiete liefern darf. Natürlich würden wir an ihrer Stelle genau das Gleiche tun und zuverlässigere Zulieferer suchen, am besten innerhalb des NATO-Bündnisses selbst.
Daraus folgt logischerweise, dass die Schweizerische Rüstungsindustrie längerfristig Marktanteile verlieren wird, bis sie die Segel streichen kann, denn die Schweizer Armee reicht als Kundin der CH-Rüstungsindustrie nicht aus, und Staaten die sich als NATO-Gegner sehen würden ja kaum Waffen in einem Land einkaufen wollen, das eine Insel im NATO-Gebiet darstellt. Hier sei kurz gesagt, dass wir denken, dass die CH-Rüstungsindustrie kurzfristig möglicherweise einen kleinen Schub erleben wird, da es weltweit viel mehr Nachfrage als Angebot bei Waffenlieferungen gibt, aber dass wir langfristig die Versorgungssicherheit als Hauptpriorität der NATO sehen, mit den geschilderten Konsequenzen für unser Land.
In den Schweizer Medien war in den letzten Wochen öfters zu hören, dass die bewaffnete Schweizer Neutralität davon abhängt, dass die Armee gewisse Kompetenzen im Bereich Unterhalt und Betrieb von Rüstungsmaterial im Land selber hat. Kurz gesagt: will die Schweiz neutral und bewaffnet bleiben, so muss sie auch selber eine Rüstungsindustrie haben. Da die Rüstungsindustrie aber ausländische Märkte verliert, wird sie wohl Produktionslinien schliessen oder mit extrem hohen Mehrkosten für den Steuerzahler weiterbetrieben werden.
Die Optionen für die Schweiz lauten also:
- Eine unbewaffnete Neutralität in einer Schweiz ohne Armee.
- Eine Schein-Neutralität bei der 100% der Waffen der Schweizer Armee aus NATO-Staaten und ihren Verbündeten stammen (denn man wird sich bei Staaten eindecken müssen, die kulturell-ideologisch mit uns kompatibel sind, genau wie bei der Beschaffung der Kampfjets), wobei wir ja wissen, dass Waffensysteme heutzutage integriert sind und deshalb die enge Zusammenarbeit mit der NATO erforderlich ist, daher eine Schein-Neutralität. Diese Option entspricht der Fortsetzung des bisherigen Wegs.
- Eine «kooperative» Neutralität die auf die NATO abgestimmt ist, wie sie es in Schweden und Finnland in denletzten Jahren war, und in der unsere Rüstungsgüter also weiter gekauft werden können, da sie unter strengen aber verständlichen Bedingungen von NATO-Ländern benutzt werden dürften. Für die nötigen Kooperationsabkommen, die ausgehandelt werden müssten, könnte man sich an den bestehenden Abkommen Finnlands und Schwedens orientieren.
- Ein NATO-Beitritt der Schweiz, den wir als Variante in der hiesigen Debatte vermissen, da man sich auch nach einem Jahr Krieg in Europa noch immer nicht zu einer ergebnisoffenen Diskussion zum Thema Sicherheit und Verteidigungspolitik durchgerungen hat.
Die beiden ersten Lösungen führen zu einem Sicherheitsverlust oder hohen Mehrkosten, und sind damit langfristig nicht tragbar.
Die kooperative Neutralität wäre akzeptabel, obwohl sie zu keinem Sicherheitsgewinn führt. Die Vertreter dieser Herangehensweise sollten ehrlich sagen, was die Folge im Angriffsfall ist, denn wie man weiss: die Brandschutzversicherung muss vor dem Brand abgeschlossen werden, bei Abschluss nach dem Brand haftet der Versicherer natürlich nicht.
Die Beitrittslösung führt unter geringem Mehraufwand zu deutlich mehr Sicherheit für unser Land, und könnte politisch Akzeptanz finden insofern sie der Bevölkerung im oben geschilderten Kontext erklärt würde.
Die Welt, die auf uns erwartet
Abschliessend möchten wir auch noch einen Blick in die Kristallkugel werfen, denn wie Nils Bohr bereits sagte: “Prediction is very difficult, especially if it’s about the future!”.
Die Ukrainer werden ihren legitimen Widerstand nicht aufgeben, ob mit oder ohne unsere Hilfe wird der Kampf weitergehen. Ohne unsere Hilfe wird es jedoch mehr Lebensverluste geben in einer sicherlich langen und blutigen Besatzung der Ukraine.
Es kommt also darauf an, wie lange der Atem des Westens reicht. Die EU und die USA haben zusammen die 25-fache Wirtschaftskraft Russlands, und ihre konventionellen militärischen Mittel sind über alle Waffengattungen gesehen ungefähr doppelt so hoch wie die der Russen vor dem 24. Februar 2022, auch wenn sie in der EU leider über 27 Staaten verstreut sind, die sich schwertun, sich aufeinander abzustimmen. Die einzige Dimension, bei der Russland mithalten kann ist bei den nuklearen Kräften, aber Putin weiss, was die Konsequenzen ihres Einsatzes gegen die Ukraine (geschweige denn ein NATO-Staat) wäre und die Ukrainer leben und kämpfen trotz dieses Risikos weiter. Putins Drohkulisse ist genau das, eine Kulisse.
Und der Westen muss besser auf den Rest der Welt eingehen und zusammen die Koalitionen bilden, die wir brauchen, um den Krieg so zu beenden, dass die Prinzipien der UNO-Charta respektiert sind und eine internationale Ordnung wiederhergestellt ist, die in den nächsten Jahrzehnten zur Lösung der dringendsten Probleme der Menschheit schreiten kann: Armutsbekämpfung, Aufbau einer friedlichen Welt, Bekämpfung des Klimawandels.